555, tempi passati

HEDWIG KORTE
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Er behauptet, eine Zahl zu sein. Bereits als Kind musste er sein Geburtsdatum oft in Fragebögen eintragen: 140541. Vielfach auch die Daten seiner Eltern, 21011915, 29031907. In der Geburtsurkunde stehen Uhrzeit, Größe, Gewicht – Geschlecht. Sein Familienname ist der des Vaters, seinen Vornamen gaben ihm seine Eltern.
Als Regisseur, Kameramann und Autor von Filmportraits sowie zahlreicher Dokumentar- und Experimentalfilme gehört Gerd Conradt zu den Pionieren politisch engagierter Filmkunst in Deutschland.

Derzeit arbeitet er an der Fortsetzung seines Films FARBTEST ROTE FAHNE – ein Experimentalfilm, in dem seine filmische Handschrift deutlich sichtbar wird. 1968, als Student an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) bekam er im Kamerakurs von seinem Dozenten Michael Ballhaus eine Rolle Farbfilm zur freien Verfügung.

Gerd Conradt drehte – wie in den Anfängen der Stummfilmzeit mit einer Rolle Film, einer Einstellung – spontan, ohne polizeiliche Anmeldung eine Aktion, eine Performance: Zu einer Stafette geordnet, in den Händen eine große Rote Fahne, laufen Männer in der Mitte einer verkehrsreichen Straße durch Berlin. Der Letzte hisst die Fahne am Balkon vom Rathaus Schöneberg, dem Sitz der Westberliner Regierung.

Ein filmisches Experiment nach Eadweard Muybridge, Andy Warhol und dem New American Cinema. Eine Studie über Männer, Bewegungen und ein Symbol.

Von diesem Film FARBTEST ROTE FAHNE wurden im Laufe der Zeit zwölf Remakes gedreht, aus denen jetzt FARBTEST.2023 entstehen wird.

1969 entdeckte Gerd Conradt den PORTAPACK von der Firma Sony. Bei dieser Maschine handelte es sich um einen Videorecorder mit Kamera, der Schwarzweißbilder und Töne aufzeichnen und auch wiedergeben konnte. Diese tragbare, Batterie betriebene Einheit entsprach einem Fernsehstudio, die Aufnahmen konnten unmittelbar über jedes Fernsehgerät gesehen und auch über Kabel in ein Fernsehprogramm eingespeist werden. Dieser Weltneuheit, VIDEO – Ich sehe – genannt, verschrieb sich Gerd Conradt mit Haut und Haar. Seine erste Fernsehsendung nannte er DER VIDEOPIONIER.

Der Schlussläufer im FARBTEST von 1968 war Holger Meins, der 1974 als RAF-Mitglied in einem Hungerstreik starb. Seinem Freund widmete Gerd Conrad einen Film, STARBUCK HOLGER MEINS, und ein Buch, das auch in Italien erschienen ist: STARBUCK. IL CORPO COME ARMA. VITA E MORTE DI HOLGER MEINS.

Was heißt es, ein revolutionäres Leben zu führen ohne Waffen und Gewalt? Eine Antwort auf diese Frage suchte Gerd Conradt, indem er den Fluss erforschte, an dessen Ufern Berlin entstanden ist. Er fragte sich, ob DIE SPREE ein Lebewesen sei mit der Fähigkeit zu fühlen und sich zu erinnern. Aus dieser Forschertätigkeit sind das Buch AN DER SPREE – DER FLUSS DIE MENSCHEN und der Film DIE SPREE SINFONIE EINES FLUSSES entstanden. Wasser ist Teil eines Kreislaufs: Wolke, Quelle, Fluss, Meer… ein scheinbar endloser Vorgang, in dessen stetiger Wiederholung eine unermessliche Kraft steckt, die Grundlage für die Existenz allen Lebens ist.

Schon in seiner Zeit als Filmstudent interessierte sich Gerd Conradt für den Atem, genauer für die Atempause, den Moment, in dem aus dem Einatem der Ausatem wird und umgekehrt. 2009 drehte er mit der Königin der Atemtherapie Ilse Middendorf den Film ATEM – STIMME DER SEELE und fand durch diese Arbeit eine Antwort. Einatmen ist Leben, Ausatmen Sterben. Die Atempause ist der Ort, an dem immer wieder neu der Lebensimpuls entsteht. Eine universelle Kraft, die jedem Menschen gegeben ist.

Die Technologie, die mit der Geburt des Portapack auf die Welt kam, entwickelte sich in rasantem Tempo weiter. In Fünf-Jahres-Schritten erblickten mehr und mehr verfeinerte Systeme das Licht der Welt: U-Matic, Betacam, BetacamSP, um nur einige zu nennen, bis zu dem Punkt, als dem Portapack vergleichtbar auf extrem hohem Niveau das MINI-DV System auf den Markt kam. Der professionelle Amateur betrat die Bühne der Medienarbeit. Ausgerüstet mit diesem technologischen Wunderwerk – hohe Bildauflösung und Stereosound – reiste Gerd Conradt durch die Welt, meist auf der Suche nach neuen Musiken. Dabei fand er das Instrument, das ihn seitdem in seinem Leben begleitet – die Maultrommel, Scacciapensieri.

Die leichte und kostengünstige Handhabung des Mini-DV-Systems ließ Gerd Conradt zum Jäger und Sammler von audiovisuellen Ereignissen werden. Politisches und Privates mischte sich mit Zufälligem, Sinnlosem, Beiläufigem.

Als er seine Wohnung, die auch Studio und Archiv gewesen war, verlassen musste, stand er vor der Frage, wohin mit den Kassettenbergen. Die Lösung bestand für ihn darin, daraus einen Film zu machen. In VIDEO VERTOV erzählt Gerd Conradt seinem Enkel auf Grundlage der gesammelten Aufnahmen Geschichten aus seinem Leben. Den Film bezeichnet er als sein audiovisuelles Testament.

Gerd Conradt

Mit dem Titel Video Vertov verweist Gerd Conradt auf sein Vorbild, den russischen Filmpionier Dsiga Vertov. Wie sein Zeitgenosse Sergei Eisenstein war jener bemüht, in seinen Stummfilmen das Publikum durch eine rhythmisch musikalische Montagetechnik zu fesseln. In seinem bekanntesten Film DER MANN MIT DER KAMERA zeigt Vertov einen Tag aus dem Leben sowjetischer Bürger in einer Stadt. Die Zuschauer lässt er am Entstehungsprozess des Films teilhaben. Er zeigt spektakuläre Aufnahmen von den Dreharbeiten und dem Herstellungsprozess bis in den Schneideraum.

George Clooney und Gerd Conradt, Sulmonacinema, 2009

Gerd Conradt versteht sich als Porträtist. Gern schlendert er durch Museen und Galerien und lässt sich von den dort gezeigten Bildern inspirieren. Wobei das Wort Inspiration wieder auf den Atem verweist – hauchen, atmen, Seele, Geist.

Als in Berlin an einem Bahnhof ein Testlauf zum Thema digitale Gesichtserkennung gestartet wurde, war Gerd Conradt mit der Kamera dabei.

Im Film FACE_IT berichtet er vom durch die Technik codierten Gesicht, das wie ein geheimnisvolles Siegel Zugang zur Persönlichkeit eines Menschen verschafft. Mit Hilfe des Facial Action Coding System (FACS) soll es möglich werden, die Geheimnisse des Gesichts – des Spiegels der Seele – zu entschlüsseln.

Gerd Conradts Arbeitsmotto „Augenblick, verweile doch, du bist so schön“ entspricht der Sehnsucht des Menschen nach Unsterblichkeit.

Der französische Filmemacher Jean Cocteau sagte: Der Film zeigt den Tod bei der Arbeit, Film zeigt das Vergehen der Zeit, Film zeigt unsere Sterblichkeit. Vielleicht ist es aber auch so, denkt Gerd Conradt, dass der Film die Fähigkeit besitzt, Tote wenigstens für Augenblicke wieder zum Leben zu erwecken, für Augenblicke – wie in einem Traum.

Gerd Conradts Geburtsdatum 140541 ergibt dreimal die Fünf, 555, eine Engelszahl. Sie steht für extremen Individualismus und permanente Veränderung. Zeit vergeht.

555, tempi passati ultima modifica: 2023-08-06T22:00:00+02:00 da HEDWIG KORTE
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