Venezianer oder Berliner? Ezio Toffolutti ist beides

Ein Leben zwischen der Lagunenstadt und dem Berlin Brechts: eine große Persönlichkeit der europäischen Theaterwelt.
SANDRA PAOLI
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Ezio Toffolutti, gebürtiger Venezianer, ist dem deutschsprachigen Raum tief verbunden. Bühnen- und Kostümbildner, Künstler, Designer, Architekt, Theaterregisseur, das Allgemeine Künstlerlexikon De Gruyter bezeichnet ihn als ‘dt. -ital.’, deutsch-italienisch, italienisch-deutsch.
Als noch die Mauer Berlin teilte, lebte er im Osten, im Berlin der Volksbühne, wo er an der Seite von Benno Besson arbeitete, dem Schweizer Theaterregisseur und Schüler von Bertolt Brecht. Genau dorthin hatte er beschlossen zu gehen. Um herauszufinden, “wie Brecht war”.

Er machte sich mit dem epischen Theater vertraut und hat seine Begeisterung dafür bewahrt. Auch nach seiner Rückkehr nach Venedig in den 1980er Jahren hat seine Faszination für Brecht nicht nachgelassen. Man spürt, dass er ihn gerne so darstellt, wie er ihn selbst durch Besson kennengelernt hatte. Mit derselben tiefen Bewunderung spricht er über Benno. „Benno”, erzählt Ezio lachend, “konnte ein Bühnenbild auch mit nur einem einzigen Stuhl machen“.

Ezio Toffolutti anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Benno Besson.

Benno Besson war ein außergewöhnlicher Lehrmeister. Toffolutti hat viel von ihm gelernt, doch ist es ihm gelungen, seine eigene Kreativität zu entfalten, frei von jeglichem Stildiktat. Wie Nora Eckert betont, sind seine Inszenierungen nicht einzuordnen: jede ist anders. Ezio Toffolutti ist überzeugt, dass “jedes Stück einen anderen Raum brauche”. Es wechselt von aufwändigen zu spartanischen Bühnenbildern aus wenigen Elementen.

Und so inszenierte er Theaterstücke und Musicals, arbeitete an renommierten Theatern in Berlin, Hamburg, München, Athen, Brüssel, Genf, Helsinki, Mailand, Paris, Rom, Stockholm, Wien, Zürich und bei großen Festivals wie Avignon, der Biennale von Venedig, den Salzburger Festspielen und den Wiener Festwochen.

Sein Kosmopolitismus, den sein umfangreicher Lebenslauf widerspiegelt, ist bei der Begegnung mit dem Künstler unmittelbar spürbar. Er spricht fließend Deutsch, Englisch und Französisch, und sein Atelier wird von Künstlern und Intellektuellen aus der ganzen Welt besucht. Doch bleibt Ezio “gebürtiger Venezianer und Wahl-Venezianer”, obgleich er seine Verbindung zur deutschen Hauptstadt, in die er oft zurückkehrt, nicht aufgegeben hat. In der Multilingualität seines Ateliers gibt es eine Konstante: der venezianische Akzent. Ezio spricht mehrere Sprachen mit einer Kadenz, die ihn einzigartig macht und die Sprachen, die er spricht, einzigartig machen.

„Sprache ist Kultur”, lehrte Giovanni Freddi, Professor der Ca’ Foscari. Er hob die Bedeutung des Kontextes hervor, in dem Sprachen verwendet werden, und erklärte, dass jede Sprache nie für sich alleine stehe, sondern Ausdruck einer Kultur im weitesten Sinne sei. Ezio Toffolutti stellt keine Ausnahme dar. Der Akzent, die Intonation, der Rhythmus, in dem er spricht, die witzigen Bemerkungen zeigen seine tiefe Verbundenheit als auch Liebe zu der Stadt, in der er geboren wurde.

Die Stadt Venedig ist oft Thema der Unterhaltung in seinem Atelier, in der Bar oder im Bacaro (venezianische Hosteria). Einige Lokale frequentiert er regelmäßig, mit den Gastwirten und zum Personal pflegt er einen herzlichen Umgang, die wiederum begegnen ihm mit liebenswürdigem Respekt. Der Liebhaber von gutem Wein und Prosecco, vorzugsweise aus biologischem Anbau, arrangiert gerne Zusammenkünfte am Tisch, die an den deutschen „Stammtisch“ erinnern, wo die Stammkundschaft ihre Meinung austauscht, sich unterhält und konfrontiert. Ezio ist die Muse der Gesprächsgruppen, die sich um diese Tische versammeln – auch an angenehmen Treffpunkten wie den Ufern der Kanäle.

Die Gespräche mit seinen Freunden werden zu regelrechten Erkundungsreisen durch die Stadt.

Er hat einen ungewöhnlichen Blick und bemerkt Dinge, die normalerweise übersehen werden, wie zum Beispiel das Licht. Er zeigt, welche Beleuchtung mit der Stadt harmoniert und ihre Schönheit unterstreicht, und welche hingegen blendet und wertvolle Details wie die Spiegelungen im Wasser oder die Farben der Gebäude unterdrückt.

Die “Pizi” der Gondeln oder die Ästhetik der Guillotine.

Gelegentlich wird die Lagunenstadt dessen beraubt, was einst Teil ihrer Schönheit war. Nichts entgeht ihm, er resigniert nicht. Im Gegenteil. Diese Verstümmelungen werden zu einer Quelle der Inspiration. Er war es, der ytali vorschlug, den zunehmenden Brauch anzuprangern, das verzierte Heckteil der Gondel zu kappen. Auch schenkte er uns sein provokantes Werk “Kastration auf venezianische Art”, ein aussagestarkes Bild.

Außergewöhnlich ist auch seine Beziehung zu den Möwen, die die Stadt mit dem Massentourismus bestürmen, aber weniger störend sind als hemmungslose Touristen. Ein paar Möwen sind auf seiner Terrasse zuhause. Sie beschützen die Stadt auf ihre Weise, indem sie den Touristen im Flug buchstäblich das Brot aus den Mündern klauen. „Man isst nicht auf der Straße”, belehrt Ezio, der sich aktiv für einen umweltfreundlichen Tourismus, für den Erhalt historischer Gebäude und den Respekt vor der örtlichen Lebenskultur einsetzt.

Seine Freunde, die ihn natürlich gut kennen, sind dennoch manchmal verblüfft über seine Bekundungen. Aber sie hören ihm zu, lassen sich von seinem Beobachtungsgeist anstecken und werden sich bewusster denn je, wie bedeutsam ist, was er sagt. Ihr Blick auf die Stadt verändert sich nach dem Gespräch mit ihm, sie nehmen die Lichter wahr, die Spiegelungen im Wasser …

Das Atelier des Maestro auf dem Campo San Maurizio.

Seine Narration der Stadt erreicht auch diejenigen außer Landes, sie berührt die Sensibilität von Künstlern und Intellektuellen, wie die türkisch-deutsche Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin 2022, Emine Sevgi Özdamar.

Emine und Ezio sind seit langem befreundet. Sie kennen sich aus den Tagen der Volksbühne und sind beide Benno Besson verbunden. Beide haben sie mit ihm in Frankreich gearbeitet. In ihrem letzten Roman, „Ein von Schatten begrenzter Raum“ (Suhrkamp 2021), erwähnt die Autorin Ezio mehrfach. Die Protagonistin, Ezio und Benno arbeiten in Frankreich gemeinsam an der Inszenierung von Bertolt Brechts “Der kaukasische Kreidekreis” – auf Französisch. Die junge Frau hat Mühe, Französisch zu verstehen, die Sprache ihrer Kollegen. Sie fühlt sich klein. Dennoch ist die Gesellschaft von Ezio, Benno und der Gruppe, die sich sonntags zu Bennos Fondue-Essen treffen, herzlich und aufbauend. Bevor sie sich verabschieden, singen sie und lassen sie auch ein türkisches Lied singen. Sie lieben ihre Stimme. So fühlt sie sich nicht mehr klein.

Auch im wirklichen Leben ist ihre Zuneigung zu Ezio lebendig geblieben. Manchmal treffen sie sich in Berlin, Ezio schickt ihr Videos, Fotos, Geschichten über seine Stadt. Es kommt vor, dass Emine sich mit mir darüber unterhält, kürzlich sogar am Telefon, als sie in ihrem Heimatland Türkei Urlaub machte. Die Schriftstellerin versäumt nie, sich nach ihm zu erkundigen, mir seine Mitteilungen zu überbringen, sie zu kommentieren, die neuesten Artikel in der internationalen Presse über seine Inszenierungen zu erwähnen, auf Französisch oder Deutsch. Und sie kommentiert sie: “Wie schön!”.

Übersetzt von Tanja Schultz

Venezianer oder Berliner? Ezio Toffolutti ist beides ultima modifica: 2023-10-02T15:45:04+02:00 da SANDRA PAOLI
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