Ein teutonischer Träumer

GERD CONRADT
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Er dreht Filme mit Freunden über Freunde. Thema vieler seiner Filme ist Freundschaft. In einigen Filmen spielen seine Ehefrauen Hauptrollen. Er ist Autor, Fotograf, Maler, Produzent, Location Scout, Ausstatter, Requisiteur – Filmemachen ist aufregend, aufreibend, komplex. In der aktuellen Ausgabe des Lifestyle Magazins DIE ZEIT – MÄNNER ist er der Covermann: Wim Wenders, 78, Deutschlands Kinopapst. Er hat 70 Kinofilme und 110 Werbefilme gedreht und ab 1996 war er bis 2020 Präsident der „Europäischen Filmakademie.

Sein berühmtester Werbefilm ist vermutlich: Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes, eine Auftragsarbeit des Vatikans. Der Film als Novum. In der Geschichte der katholischen Kirche gab es zuvor noch nie einen Kinofilm über den Vertreter Gottes auf Erden. Der Papst als Filmstar. Und es ist ein echter Wenders. Im Zentrum des Films sieht man ein langes Interview mit Franziskus. Beim Interview saß der Regisseur dem Papst nicht direkt gegenüber, sondern sprach mit ihm über den Monitor eines umfunktionierten Telepromters, sodass der Eindruck eines direkten Blickkontakts zwischen dem Papst und seinen Zuhörern entsteht. Mit Technik Magie erzeugen. Das ist Kino.

Die Bibel sei das wichtigste Buch in seinem Leben, er verstehe sich als ökumenischer Christ, bekundet Wim Wenders. Papst Franziskus sei ein Mann der Offenheit und Zärtlichkeit, der überall dahin gehe, wo es wehtue. Der Papst habe ihn gelehrt, furchtloser zu sein, schreibt Wenders, dessen Filme schweben und Unbewusstes atmen.

Zurück zum Covermann. Das Bild hat mich angeregt, über Wim nachzudenken. Erstmals begegneten wir uns im Sommer 1968. Ich war Student an der 1966 neugegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und Wim an der ein Jahr später eröffneten Münchener Filmakademie. Er kam als Vertreter des ASTA aus München nach Berlin, um uns und die dffb kennenzulernen. Er kam als Bote, der Solidarität zeigte in den Auseinandersetzungen, die wir, die Studierenden, mit der Direktion der dffb hatten. Für mich ein Zeichen, ein Signal. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder kleine, stets intensive Begegnungen. Für mein Buch über unseren Kollegen Holger Meins, der ebenfalls an der dffb studiert hatte, später die Kamera mit der Waffe vertauscht hatte und als Mitglied der RAF 1974 im Hungerstreik gestorben war, gab er mir ein Interview. In seinem Film Der Amerikanische Freund lässt er den Protagonisten Bruno Ganz in einem VW an einer Hauswand vorbeifahren, auf der deutlich zu lesen war: Holger –das war Mord. Holger Meins hatte, so wie ich, an Wims Abschlussfilm Summer in the Citymitgearbeitet. Der Film zeigt viele der späteren Markenthemen von Wenders: Reisen, ziellose Suche, Flucht – seine Liebe zur Musik. Der Filmtitel bezieht sich auf ein Lied der Band The Lovin’ Spoonful.

Papst Franziskus

Sieht Wim Wenders auf dem Coverbild glücklich aus? Graues volles Haar, kräftige Augenbrauen, runde Brille mit schwarzem Rahmen, kräftige Nase, über den Mund ein Menjou-Bärtchen, schmale Lippen. Schwarzer Mantel, weißes Hemd mit einem multiblen Kragen von Yohji Yamamoto. Zusammengekniffene Augen. Wim Wenders wirkt ernst, skeptisch – er zeigt Trotz. Ein trotziger Junge? Einer, der hartnäckig eine Sache verfolgt, der beharrt, der unerschrocken und standhaft ist, der Mut hat, der sich wehrt. Eine Trutzburg – eine Trutzburg gegen den Verfall der Filmkunst, ein Zufluchtsort.

Wim Wenders hat Erfolg. Er ist „weltweit der berühmteste deutsche Filmregisseur“, schreibt DIE ZEIT. Doch er ist nicht nur Regisseur, sondern auchMarke. Die Zeit fragt: „Wenn nur einer Ihrer Filme bleiben würde, für welchen würden Sie sich entscheiden? Wenders: Bis an Ende der Welt. Die Zeit: Paris Texas.“ Ich: Im Laufe der Zeit.

Für viele Filmemacherinnen und -macher ist es die grösste Ehre, einmal im Leben einen Film auf dem prestigeträchtigen Festival in Cannes zeigen zu dürfen. Wim Wenders ist dort Dauergast. 20 seiner Werke fanden in Cannes ihren Weg in die Öffentlichkeit. In diesem Sommer war er gleich mit zwei neuen Filmen an der Cote d’azur vertreten.

Zu Cannes und Wim Wenders fällt mir eine Geschichte ein. In seinem Film Im Laufe der Zeit, 1976, reisen zwei Männer mit einem alten LKW entlang der deutsch-deutschen Grenze und reparieren in den Dorfkinos Filmprojektoren. Ohne Einladung fuhr Wim voller Elan und Siegesgewissheit mit seinem Team und dem LKW nach Cannes und stellte sich auf die Promenade de la Croisette – in der Hoffnung, einen Käufer für die fast dreistündige in Schwarz-Weiß gedrehte Liebeserklärung an das Kino zu finden. In den folgenden Jahren wurde aus dem Lehrling ein Meister. Cannes liegt ihm zu Füßen, er weiß, wie er aufzutreten hat. Schwarzer Smoking mit Fliege in wechselnden Farben.

Perfect Days

Sein neuer Spielfilm Perfect Days lief im Wettbewerb um die Goldene Palme, sein in 3D gedrehter Dokumentarfilm Anselm – Das Rauschen der Zeitaußer Konkurrenz. Beide Filme habe ich noch nicht gesehen, kenne nur deren Geschichten.

Für DIE ZEIT – MÄNNER Anlass, Wim Wenders aufs Cover zu setzen.

Im Heft gibt es weitere Modefotos mit dem Regiestar. Wie Graf Dracula posiert er in einem Mantel von Brioni und in einem Cape ähnlichen Umhang von Yojhi Yamamoto, dem japanischen Modedesigner, über den er auch einen Film gedreht hat, Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten, 1989. Eine Auftragsarbeit des Centre Pompidou, ein Tagebuch-Film, in dem Wim Wenders nach den handwerklichen Gemeinsamkeiten zwischen Filmemachen und Modedesign sucht. Diesen Film drehte er weitgehend als „Ein-Mann-Team“ über den, der in den 1980er Jahren die Modewelt revolutionierte.

„Filmemachen… sollte manchmal einfach eine Art zu leben sein. Wie zum Beispiel spazieren gehen, Zeitung lesen, essen, sich etwas aufschreiben, Auto fahren – oder eben diesen Film zu drehen, der sich von Tag zu Tag selber schreibt, angetrieben durch die Neugierde an einer Sache“, ist bei Wikipedia über Wim Wenders und seine Arbeit mit seinem Freund Yamamoto zu lesen.

Das ist ein Traum, der längst in Erfüllung gegangen ist. Heute kann jeder Mensch mit einem Smartphone technisch hochwertige Filme drehen und diese auf den entsprechenden Plattformen vertreiben. Doch das ist nicht das Kino, für das Wim Wenders seine Filme macht. Er muss sich mit Zahlen genauso gut wie ein Banker auskennen. Ein Film ist eine Ware, für deren Herstellung Geld benötigt wird. Um es ausgeben zu können, muss es vorher eingenommen worden sein.

Als ich 1992 mit meinem vom japanischen Sender ASAHI-TV finanzierten Film Blaubeerwald in Tokio war, kaufte ich in Yamamotos Store mehrere Kleidungsstücke. Diese dienen mir noch heute als Vorlage für Anzüge, die ich günstig nachschneidern lasse. 

Perfect Days  ist auch eine Art Auftragsarbeit, eine Werbefilm im „Pelz“ eines Spielfilms, der wieder in Tokio spielt. Für die Olympischen Spiele 2020, die wegen Corona ausfielen und 2021 ohne Öffentlichkeit stattfanden, wurden von namhaften Architekten Toilettenhäuschen gebaut. Diese sollte Wenders der Weltöffentlichkeit bekannt machen. Toilettenhäuschen als Juwelen der Architektur zu bauen, ist genial. Diesem Vorbild sollten Großstädte nacheifern. Um das Thema attraktiv zu machen, lässt Wenders einen Toilettenmann im Film sein Glück finden. Toilettenreinigen als meditatives Ritual. 

In den 90er Jahren reiste ich mehrmals in den Ashram von Poona, um Meditation zu studieren und zu Füßen eines Meisters verzückt dessen Worten zu lauschen. Cleaning war eine der gesuchtesten Beschäftigungen im Ashram, besonders die Reinigung der Toiletten. Während wir nach Erleuchtung dürsteten, suchten viele Millionen Inder ein „stilles Örtchen“ in der Öffentlichkeit, um ihren „Stuhlgang“ zu erledigen. 

Anselm – Das Rauschen der Zeit

Anselm  Das Rauschen der Zeit, der zweite Film, der in Cannes in diesem Jahr von Wim Wenders gezeigt wurde, beschreibt den Lebensweg des deutschen Künstlers Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer, beide Jahrgang 1945, lernten sich 1991 im Berliner Künstlerlokal Exil kennen – dem Zentrum der West-Berliner Intellektuellen und der literarischen und künstlerischen Avantgarde der siebziger und achtziger Jahre. Bereits damals entstand die Idee, der Filmemacher Wenders, der eigentlich Maler werden wollte, solle über den Maler Kiefer, der eigentlich Filmemacher werden wollte, einen Film drehen.

Derzeit nimmt Anselm Kiefer, der sich als „Speicher des deutschen Erbes“ versteht, dessen bevorzugtes Arbeitsmaterial Blei ist, auf dem Kunstkompass der 100 weltweit gefragtesten Gegenwartskünstler Rang 6 ein.

Als Kind schrieb ich mit einem Bleistift meine ersten Worte, Bleigießen gehörte zur Silvestertradition in unserer Familie, der uns bekannte Förster schoss das Wild, das bei uns im Kochtopf oder in der Bratröhre landete, mit aus Blei bestehenden Schrotkugeln, vor Bleivergiftung wurden wir gewarnt – und dann gab es 1981 den Film Die Bleierne Zeit von der Regisseurin Margarete von Trotta, einer Wegbegeleiterin  Wim Wenders´ aus den Anfängen des Neuen Deutschen Kinos. In ihrem Film erzählt sie die Biografien der Schwestern Ensslin. Christiane Ensslin, eine Vorkämpferin des Feminismus und Gudrun Ensslin, die 1970 den Weg des bewaffneten Kampfes wählte und  sich der Roten Armee Fraktion (RAF) anschloss – zu der auch mein Freund und Kollege Holger Meins gehörte. Auf den Filmfestspielen in Venedig wurde sie für diesen Film mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Wim Wenders ist ein Meister der Filmkunst und deren Vermarktung. Der Titel Ein teutonischer Träumerwurde mir als Eingebung geschenkt – von wem? Was ist Inspiration? Einatmen.

Ein teutonischer Träumer ultima modifica: 2023-11-07T16:13:50+01:00 da GERD CONRADT
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