Das Deutsche Studienzentrum in Venedig – eine Einrichtung für interdisziplinäre Studien, die wissenschaftliche Arbeiten und Projekte zur Geschichte und Kultur Venedigs und zu seinen ehemaligen Herrschaftsgebieten fördert – hat einen neuen Direktor: Richard Erkens. Der Musikwissenschaftler und Opernforscher hat sein Amt am 4. September in einer feierlichen Zeremonie in der Aula Baratto der Ca’ Foscari offiziell angetreten. ytali hat ihn interviewt.

In Deutschland haben Sie in Bayreuth und Berlin Musikwissenschaften studiert. Was hat Sie dazu bewegt, sich besonders mit der italienischen Musik auseinanderzusetzen?
Für das Studium der Musikwissenschaft habe ich mich entschlossen, weil mich seit der Schulzeit das Musiktheater in all seinen historischen und gegenwärtigen Spielarten zu faszinieren begann. Dieses Interesse führte mich schließlich an die Universität Bayreuth, wo mit den Fächern der Musik- und Theaterwissenschaften eine Spezialisierung auf das Musiktheater angeboten wurde. Natürlich kommt man in Bayreuth an Richard Wagner nicht vorbei, doch am Forschungsinstitut für Musiktheater (FIMT) lehrte zu meiner Studentenzeit eben auch Sieghart Döhring, einer der führenden Meyerbeer-Forscher und Experte für das französische Musiktheater. Mir wurde die europäische Dimension der Operngeschichte in den ersten Semestern gleichsam in die akademische Wiege gelegt. Das fand seine Fortsetzung, als ich an die Freie Universität nach Berlin wechselte. Hier studierte ich bei Jürgen Maehder, einer der Doyens der internationalen Puccini-Forschung, durch den ich besonders die italienische Forschungslandschaft kennenlernte. Mir wurde bewusst, dass die Auseinandersetzung mit der italienischen Musikgeschichte der Schlüssel zum Verständnis der europäischen Operngeschichte überhaupt ist. Und nebenbei hatte ich große Freude daran, als ich in Bayreuth meine ersten italienischen Sprachkurse besuchte, plötzlich auch den Sinn der gesungenen Verse etwa einer Arie von Bellini oder Verdi zu verstehen! Rein musikalisch “verstand“ ich die Melodien schon vorher – den musikdramaturgischen Sinn aber erst jetzt.

Ihre Monographie ist dem Komponisten Alberto Franchetti gewidmet. Was macht ihn Ihrer Meinung nach besonders beachtenswert?
Die Entscheidung, über den heutzutage wenig bekannten Komponisten Alberto Franchetti (1860–1942) zu promovieren, war ein Stück weit meinen unterschiedlichen Interessen geschuldet. Ich wollte Grundlagenforschung und Erstbeschreibung mit der Diskussion ästhetischer Fragestellungen verbinden, und das vor dem Hintergrund der europäischen Opernentwicklung nach Verdi und Wagner. Franchetti als Komponist italienisch-deutscher Provenienz mit einem dezidiert “transnationalen“ Ausbildungsweg bot mir quasi alles, um mich diesen Phänomenen aus einer noch völlig “unbeschriebenen“ Perspektive zu nähern – eben durch den Blick auf Opern, die bis zum Ersten Weltkrieg internationale Erfolge feierten, dann aber zunehmend kein Publikum mehr fanden. Allein schon seine prominente Stellung unter Kollegen wie Puccini, Mascagni oder Giordano macht ihn für die Forschung interessant. Um die Komplexität einer Epoche verstehen zu können, reicht es nicht aus, nur diejenigen Komponisten unter die Lupe zu nehmen, die auch heute noch überall aufgeführt werden. Sie sind, gemessen an der historischen Überlieferung, ohnehin in der Minderzahl. Gewiss hat Franchetti nicht innovativ auf die Musikgeschichte eingewirkt. Doch fragt man nach den Gründen seines zeitgebundenen Erfolgs und seines Verschwindens, dann erhält man ein genaueres Bild von der stilistischen Diversität der Zeit des sogenannten Opern-Verismo um 1900. Franchettis Musik sticht dabei durch ihre Noblesse, Eleganz und sehr feine Instrumentation heraus. Er war ein Meister der stimmungsgeladenen, erzählenden Monologe, weniger der dramatischen Konflikte, obgleich sich das nicht generalisierend sagen lässt. Die jüngste Aufführung einer Franchetti-Oper, nämlich seines Debütwerkes Asrael am Theater Bonn im Herbst 2022, hat den ganzen Farbreichtum seiner musikalischen Sprache wieder erfahrbar gemacht. (Als ich 2010 in meiner Dissertation die Partitur analysierte, musste ich mir noch die Musik am Klavier vergegenwärtigen – es gab damals keine Einspielung). Erst dadurch habe ich verstanden, wie viel diese Oper auch mit Venedig zu tun hat, mit der Stadt, in der er aufwuchs: die neogotische Ästhetik, die dieses fantastische Welttheater von 1888 durchzieht, atmet denselben stilistischen Geist des Palazzo Cavalli-Franchetti, den sein Vater kurz zuvor aufwendig renovieren ließ. Die seitlich angebaute Ehrentreppe, ein architektonisches Hauptwerk Camillo Boitos übrigens, “klingt“ förmlich wie eine der großen Ensembleszenen in Franchettis Asrael: beide sind in ihrer Monumentalität zugleich äußerst grazile Gebilde.

Sie haben sich auch mit der Gestalt des Opern-Impresario im Italien des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Gibt es erwähnenswerte Impresari?
Die Frage trifft einen entscheidenden Punkt, der am Beginn dieses Forschungsprojektes stand: wir kennen kaum die Namen der vielen Opernimpresari, die besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das kommerzialisierte Opernwesen Italiens konsolidiert haben. Sie waren aber nicht weniger als die “Antriebsmotoren“ einer inneren wie äußeren Expansion der italienischen Theatertopographie. Die Frequenz der Produktionen verdichtete sich deutlich nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, die Zahl der Theaterneubauten nahm sprunghaft zu. Zeitgleich lockten prosperierende Residenzen und Handelszentren nördlich der Alpen viele Sängerinnen und Sänger wie auch Librettisten und Musiker mit hohen Gagen ins Ausland. All diese Prozesse sind ohne die Schlüsselfigur Impresario nicht erklärbar, doch gehören die landläufig bekannten Namen – etwa Domenico Barbaja – einer späteren Epoche an. In der Forschungsliteratur das Bild noch recht unklar, welche Funktionen ein Impresario übernahm. Man verwechselt ihn schnell mit den Theatereigentümern oder einem Direktor. Der Blick hinter die Kulissen eines Produktionsprozesses ist komplex, weil man zunächst die Rahmenbedingungen einer einzelnen Spielstätten rekonstruieren muss, um dann die personellen Mechanismen, das Beziehungsgefüge und schließlich die Entscheidungshierarchien in künstlerischen Fragen herausarbeiten und an historischen Quellen nachweisen zu können. Die ältere Forschung hat den Begriff des italienischen Produktionssystems etabliert – ich baue darauf modifizierend auf, indem ich im Bild der Figuration (nach Norbert Elias) die “unsystematischen“, irregulären und stetig veränderbaren Interdependenzen im historischen Produktionsalltag zu rekonstruieren versuche. Meine eigene praktische Theatererfahrung half mir dabei: eine “systematische“ Arbeit findet sich, auch wenn angestrebt, im Theateralltag kaum. Und ja: schaut man – sofern überliefert – in handschriftliche Pachtverträge, in Verträge mit Sängern, Komponisten und Bühnenmalern oder in Rechnungsbücher und Zahlquittungen, dann kommen Namen und Funktionen deutlich zum Vorschein – darunter übrigens auch zahlreiche Frauen! Einflussreich für Venedig waren u.a.: der immer noch kaum erforschte Giovanni Orsatto (Vorbild für Benedetto Marcellos bekannte Satire Il teatro alla moda von 1720), der ebenso nur schemenhaft konturierte Michele Grimani (der nicht nur Theatereigentümer, sondern auch Leiter des operativen Produktionsgeschäftes war) sowie ein gewisser Prospero Olivieri, der städteübergreifend agierte und dadurch maßgeblich an der Verbreitung der Opera buffa der 1750er Jahre beteiligt war. Dass Antonio Vivaldi den modernen Typus des Künstler-Impresarios verkörperte, dürfte dagegen bekannt sein.

In Rom waren Sie als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Musikabteilung des Deutschen Historischen Instituts tätig. Was an Ihrer Arbeit und Ihrem römischen Aufenthalt war fruchtbar?
Die fünf Jahre am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom mit seiner legendären Musikbibliothek eröffneten mir zwei wichtige Zukunftsperspektiven: ich konnte in die Wissenschaft zurückkehren, da ich zuvor für vier Spielzeiten als Dramaturg und Stellvertretender Operndirektor am Stadttheater Lübeck in der sogenannten Praxis tätig war. Zugleich war das Jahr 2015 auch der Startschuss meines Habilitationsprojektes über italienische Opernimpresari – ich konnte also meine praktischen Erfahrungen ein Stück weit für meine historischen Forschungen nutzbar machen. Als ich in römischen Zivilgerichtsakten alte Dokumente über den italienischen Theateralltag fand (hohe Gagenforderungen, verlorengegangene Partituren, nicht rechtzeitig angereiste Solisten, Transportprobleme mit Instrumenten, verärgerte Librettisten usw.), fühlte ich mich an manche Konfliktsituation erinnert, die ich selbst erlebt hatte. Im Spiegel meiner eigenen Erfahrungen als Opernproduzent wurde mir die Vergangenheit ungemein lebendig. Die Konfliktszenarien ließen sich in Ansätzen imaginär vervollständigen, um dann zu sehen, welche Lösungen im historischen Theateralltag gefunden wurden, damit schließlich der Vorhang am Premierenabend hochgezogen werden konnte. Dieser Zugang half mir sehr, auch wenn die wissenschaftliche Prosa, in der ich meine Ergebnisse niedergeschrieben habe, natürlich kein historischer Roman geworden ist.
Ich weiß, dass Sie in Rom häufig die Oper besuchten – ich kann mir vorstellen, dass Sie das auch in anderen italienischen Städten getan haben. Was schätzen Sie besonders an den Aufführungen hierzulande?
Den Augenblick! Oder besser: den plötzlichen Zauber eines perfekten Opernmoments, den man vielleicht schon gar nicht mehr erwartet hätte. Wie eine Aufführung wird, kann man natürlich nie und in keinem Land vorhersagen. Aber dennoch habe ich in italienischen Opernaufführungen unvergleichlich überzeugende Momente im Zusammenspiel von Gesang, Szene, Orchester und Publikum erlebt, an die ich mich vergleichbar nicht derart intensiv an Theatern nördlich der Alpen erinnern kann. Sicherlich ist das ein sehr persönlicher Eindruck, aber er hat sich bei Opernabenden in Neapel, Rom, Mailand oder Venedig oft bestätigt. Es ist eine Form von hochkonzentrierter Stimmung im Zuschauerraum und bei den Darstellern, der für wenige Augenblicke alle Anwesenden vollständig zu beherrschen scheint, etwa bei einer besonderen solistischen Passage oder einer dramatischen Szene. Überraschend dann, dass diese kollektive Spannung oft sehr rasch wieder verfliegt und sich kaum über einen Akt oder gar eine ganz Oper erstreckt. Das gesellschaftliche Theater im Zuschauerraum verselbständigt sich in Italien sehr schnell wieder und gewinnt ein Eigenleben, das die Konzentrationsfelder eher separiert als langfristig auf einen Punkt bündelt. Aber wenn das im Augenblick gelingt, ist es unvergesslich und lässt alles andere vergessen. Man kann es vergleichen wie die plötzliche Geschmacksexplosion eines perfekten Cafés, die sich im Moment entfaltet und dann wieder verfliegt: die eher gleichmäßige Stimmung eines schwarzen Tees erlebe ich in italienischen Opernaufführungen nicht.
Was hat Sie dazu bewegt, sich in früheren Jahren um ein Stipendium am Deutschen Studienzentrum in Venedig zu bewerben?
Für meine Forschungen zur italienischen Operngeschichte war und ist weiterhin die Nähe zu den historischen Quellen von grundlegender Bedeutung. Für meine Franchetti-Studien im Jahr 2007 musste ich z.B. das familiäre Privatarchiv konsultieren und in vielen Bibliotheken und Archiven nach Noten und Ego-Dokumenten suchen; das hatte vorher noch keiner getan. Für die Impresari gilt das gleichermaßen: hier sind die Überlieferungsorte sogar noch breiter gestreut, so dass man tatsächlich explorativ vorgehen muss: man sucht im Handschriften-Urwald der unzähligen Notars- und Familienarchive nach Spuren historischer Theateraufführungen – und findet plötzlich etwas Neues. In Rom gelang mir beispielsweise auf diese Weise das Auffinden eines Vertrages von Antonio Vivaldi. Für diese Art der Forschung ist eine stabile Infrastruktur der Wissenschaftsförderung Gold wert. Genau diesen Schatz bietet in unvergleichlicher Weise das Deutsche Studienzentrum in Venedig. Als Basis für die Quellenarbeit vor Ort ist es so zentral und quellennah für alle Fachdisziplinen gelegen, dass eine effektivere Form der Förderung kaum denkbar ist. Daneben motivierte mich selbstredend auch der Reiz, die Lagunenstadt als alltäglichen Ort des Lebens und Arbeitens kennenlernen zu dürfen – ein großes Privileg, wovon ich felsenfest überzeugt bin. Dass das Studienzentrum darüber hinaus trotz seines verwinkelten Zugangs durch die Calle Corner ein lebendiger und bestens vernetzter Ort der Begegnungen etwa auch mit Künstlerinnen und Künstlern ist und die große Terrasse zum Canal Grande hin einen magischen Bann auf viele charismatische Persönlichkeiten ausübt, habe ich dann erst vor Ort erfahren.

Sie haben dann beschlossen, als Direktor dorthin zurückzukehren. Weshalb?
Die akademischen Berufswege nicht erst meiner Generation sind durch hohe Flexibilität ausgezeichnet. Zeitlich befristete Verträge sind bis zur Habilitation und auch oft darüber hinaus zum Standard geworden – eine durchaus problematische Entwicklung. Daher bewegt man sich ohnehin in einem ständigen Bewerbungskarussell, ob man will oder nicht. Als ich die Ausschreibung aus Venedig las, war ich gerade wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und habe keine Sekunde gezögert, mich nach Venedig zu bewerben. Als ehemaliger Stipendiat kannte ich das Deutsche Studienzentrum ebenso wie die hiesige Archiv- und Museumslandschaft. Aber meine Orts- und Quellenkenntnis hat natürlich noch sehr viel Luft nach oben. Persönliche Motivation gab es also genug, und als nächste befristete Etappe einige Jahre in Venedig zu leben und zu arbeiten an einer singulären Fördereinrichtung und zugleich einem kommunikativen Hotspot des deutsch-italienischen Kulturaustauschs, ist eigentlich keine Frage, die man aktiv beantworten muss – sie beantwortet sich von alleine. Überrascht war ich dennoch, als mir das Angebot unterbreitet wurde: immerhin bewerben sich hier hochqualifizierte Kolleginnen und Kollegen aus allen historischen Disziplinen, die sich der Venedig-Forschung verschrieben haben.
Zum Auftakt Ihres neuen Amtsantritts bieten Sie ein Programm, das Sie als Leitmotiv bezeichnen, ein Impuls, der sich in allen Kunstformen entwickeln und darstellen lässt und dem Sie den Titel ” Rispecchiamenti – Widerspiegelungen” geben. Was hat Sie dazu inspiriert?
Für eine Institution, die wie keine andere durch die Vergabe von Präsenzstipendien für Wissenschaft und Kunst eine so große Bandbreite unterschiedlicher Personen und Projekte fördert, erscheint es mir wichtig, ein verbindendes Gesprächsangebot zu formulieren. Es hebt die Autonomie der Einzelprojekte natürlich keineswegs auf, aber kann dabei helfen, einen gemeinsamen Nenner zu finden und über diesen miteinander zu kommunizieren. Als “Leitmotiv“ durchzieht es gleichsam unsere Diskussionen, kann als Motto in den Vordergrund gespielt werden oder hintergründig einen Denkanstoß geben. Zugleich beschreibt es in zweifacher Brechung das, was die Künstler*innen und Wissenschaftler*innen hier machen: sich die aktuellen, historischen oder metaphorischen Spiegelbilder Venedigs kreativ oder mit einem speziellen Erkenntnisinteresse anzueignen, um sie dann in der zweiten Spiegelung eines Kunstwerkes oder einer publizierten Studie über die Stadt hinaus zu spiegeln. Reflexion verstanden als vierte Kulturtechnik, als Übertragungsmedium, wenn man den Schriften des Medientheoretikers Slavko Kacunkos folgen mag. Oder, um frei mit dem Semiotiker Umberto Eco zu sprechen: den Spiegel als Hilfsmittel der Erweiterung des menschlichen Sehvermögens verstehen. Unweigerlich wird man darauf gestoßen, dass es dann die stetig veränderbare Perspektive ist sowie der Reinheitsgrad einer spiegelnden Oberfläche, die neue Sichtweisen ermöglicht oder verstellt. Übertragen auf die Forschung meint das: die historische Quelle als Spiegel in den virtuellen Raum der Vergangenheit zu begreifen. Anordnung, Kombination und Reflexionspotential der Quellen werden dabei zu entscheidenden Faktoren eines möglichen Erkenntnisgewinns.
Im Zuge meiner Arbeiten war ich immer an diesen Fragen interessiert, habe aber nun erst die Möglichkeit, diese zu konkretisieren. Ein Vehikel dabei waren aber tatsächlich “meine” Impresari: ein wichtiger venezianischer Akteur zur Goldoni-Zeit war Antonio Codognato aus der Zunft der Spiegelmacher. Daneben war er der wohl kreativste Impresario für experimentelle Opernproduktionen: er baute feste Bühnenbilder und verwendete dabei auch Spiegelelemente. Heute würde man das eine Rauminstallationen nennen, und als solche wurden sie schon damals wahrgenommen. Dieses neue Forschungsvorhaben, das ich mir für meine venezianische Zeit vorgenommen habe, untersucht genau solche Spiegelphänomene auf der Opernbühne – da lag die Idee quasi auf der Hand, ein erweitertes “Leitmotiv“ auch für das Studienzentrum zu entwerfen. Die Reflexionen, die mich bereits jetzt in Gesprächen von vielen Seiten erreicht haben, zeigen mir, dass das Thema weiterhin aktuell ist.

Sie behaupten, dass “jeder, der nach Venedig komme und die labyrinthischen Verflechtungen von Kanälen, Gassen, Kirchen und Palazzi zu erschließen beginne, mit sich selbst neu in Bezug gesetzt würde.” Sie führen dieses Phänomen auf die Eigenschaft der Stadt zurück, denn “Venedig spiegele vielgestaltig wie keine andere Stadt”. In Italien gibt es viele alte Städte, Wasserstädte mit historischen Stadtkernen, die von unzähligen Gassen durchzogen sind, in denen sich der Besucher leicht verirrt. Was unterscheidet die Lagunenstadt von anderen Städten?
Venedig unterscheidet sich grundlegend von anderen Wasser- und Labyrinthstädten Italiens durch seine isolierte Lage inmitten einer weiten Lagune. Diese natürliche Begrenzung bedingt die eingeschränkte Zugänglichkeit der Stadt – entweder durch das Nadelöhr Ponte della Libertà bzw. Piazzale Roma oder durch eine mehr als halbstündige Schiffsfahrt. Diese breite Schwelle, die man gleich einer langen Passage durchschreiten muss, um nach Venedig zu kommen, macht etwas mit jedem Besucher. Man wird in einen vertraut-unvertrauten Kosmos hineingezogen im Wissen darum, dass man nicht so einfach wieder herauskommt. Bei anderen verwinkelten historischen Stadtkernen hat man meist immer die Möglichkeit, in wenigen Gehminuten jenseits der Stadtmauer sein mitunter fantasievoll geparktes Auto wieder aufzusuchen, um sich rasch wegbewegen zu können. All das geht in Venedig nicht. Dazu kommt die räumliche Größe dieser ‚Anderswelt‘: sich die Sestiere zu erschließen, die Windungen des Canal Grande zu begreifen und sich schließlich mit den zentralen Markierungen der Campi und Chiese vertraut zu machen, ist eine Aufgabe, die Venedig stillschweigend wie unnachgiebig an alle seine Besucher stellt wie – sowie ich zu wissen meine – keine vergleichbare urbane Struktur, die heute noch existiert (Vielleicht war der Ersteindruck der heute zerstörten Azteken-Stadt Tenochtitlán vergleichbar?). Diese Ausschließlichkeit, die für Venedig gilt, finde ich einzigartig – anders gesagt: man kann nicht in Venedig sein und ausblenden, dass man hier ist. In modernen, uniformierten Großstädten ist das ohne weiteres möglich. In Venedig aber eben nicht: beispielsweise ist die Mobilität anders rhythmisiert, die öffentlichen Fuß-, Brücken- und Wasserwege zwingen in eine nahezu ‚endemische‘ Motorik der Fortbewegung und des Aushandlungsprozesses von Vorrechten und Zugeständnissen, wenn es darum geht, eine überfüllte Brücke zu meistern und danach schon wieder in den Passanten-Stau vor einem sotoportego zu geraten. Auch das Lagunenklima hat eine starke atmosphärische Kraft, die auf einen einwirkt und zugleich auch mikroklimatische Überraschungen bereithält: war es in der einen Calle noch schwül und muffig, kann es um zwei Ecken schon wieder trocken und wohlriechend sein. Auch der vielkritisierte Tagestourist von Venedig merkt unweigerlich, dass diese Stadt ihm etwas abfordert – und sei es die leise Ahnung, dass er in seinen Gewohnheiten und Bequemlichkeiten gestört und während seiner kurzen Besuchszeit diesen ganzen ‚Organismus Venedig‘ nicht ansatzweise verstanden hat. Daher finde ich die Denkfigur überzeugend, dass Venedig in der touristischen wie alltäglichen Wahrnehmung auch Spiegelbilder erzeugt, die das eigene Subjekt zum Gegenstadt haben – eben: als bisweilen kritisches Spiegelbild eigener Befindlichkeiten und vermeintlicher Gewissheiten.

Was geschieht mit denjenigen, die Venedig “erkunden”? Führt ein Besuch in der Stadt nur bei den besonders Empfindsamen zu einer Erneuerung oder auch bei den Blitztouristen, die sich nach einem Spaziergang durch die Calli in Massenvergnügungen stürzen?
Venedig bietet die Chance, sich gerade über das globale Phänomen des Overtourism zu verständigen. Wer als Blitztourist dem global vermarkteten Oberflächen-Bild von Venedig folgt, nach einer Stunde auf den vielfrequentierten Standardwegen vorbei an industriell-fabrizierten Süßigkeiten-Inszenierungen endlich auf der Piazza San Marco steht, um sich vor uneingestandener Reizüberforderung dann lediglich über die Tauben und ihre fotogene Gefräßigkeit freuen zu können, weil er jetzt eh nicht mehr weiß, wie die Kirche da vorne noch einmal heißt und warum sich überall Schlangen vor irgendwelchen Eingängen bilden – ja, auch dann besteht die Chance, im Spiegel einer solchen Negativerfahrung von Venedig sich selbst anders wahrzunehmen. Wie war meine Tages-Perspektive auf diese Stadt? Wollte ich überhaupt etwas von diesem fragilen Kultur- und Lebensraum, von dem alle raunen, er ginge bald unter? Konnte ich in seinen Reflexionsraum offen und konzentriert eintreten, oder wollte ich nur das Selfie mit Seufzerbrücke? In der Tat gelingt es doch erstaunlich vielen Mitmenschen, den Vorhang vor den “Spiegeln Venedigs“ geschlossen zu halten. Das heißt indes nicht, dass eben sie selbst zu Spiegelphänomenen werden. Unsere gesellschaftliche Verfasstheit sticht uns in derartigem Verhalten gleichsam als gleißender Reflex direkt in die Augen. Venedig ist hier – um bei optischen Metaphern zu bleiben – ein Brennglas globaler Problematiken und sozialer Prozesse.
Sie haben auf den Fahnenstangen der Terrasse des Palazzo Barbarigo, dem Sitz des Studienzentrums, (kleine runde) Spiegel angebracht, die auf den Canal Grande gerichtet sind. Warum ist diese Spiegelung für Sie so wichtig, die zwar die vorbeifahrenden Boote einfängt – sofern die Sonne scheint –, das aber nur für einen kurzen (kaum wahrnehmbaren) Augenblick tut?
Mich würde es freuen, wenn es mit der Zeit die Runde machte, dass an den drei Fahnenstangen an der Spitze der Terrasse unseres Palazzo drei Spiegelelemente angebracht sind. Es fahren täglich so viele Menschen im Vaporetto am Deutschen Studienzentrum vorbei, die brauchen eine Such-Aufgabe! Und wenn es dann nur ein bisschen blitzt und der Kommentar auf der Zunge liegt: “Das war aber nicht so spektakulär…“, wäre es immerhin angeraten, seine Erwartungen zu korrigieren, um nicht enttäuscht zu sein. Doch besteht die nicht unbegründete Chance, dass ein Venedig-Reisender daheim auf einen seiner vielen Bilder plötzlich sein Foto von einem Sonnenstrahl durchschnitten findet – gespiegelt von den Fahnenstangen des Deutschen Studienzentrums –, den er zuvor gar nicht gesehen hatte. Ein hintergründiges Spiel mit dem Leitmotiv “Rispecchiamenti – Widerspiegelungen“ soll es sein – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und es veranschaulicht: Spiegelungen, wenn sie auch nur kurz aufscheinen, sind immer von der Präsenz des Betrachtenden abhängig ebenso wie von seinem veränderbaren Standpunkt – letzteres besorgen in unserem Fall die Gondolieri oder das Vaporetto-Team von ACTV.

Gewöhnlich verblüfft der Künstler den Betrachter. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass Sie Erwartungen an diejenigen haben, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Können Sie diese darlegen?
Die Künstlerinnen und Künstler, die als Stipendiaten für drei Monate bei uns und in Venedig leben, arbeiten thematisch vollkommen frei an ihren jeweiligen Projekten – ebenso wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das aktuelle Leitmotiv darf diese Freiheit gar nicht einschränken; es regt vielmehr dazu an, sich mit Fragen der Wahrnehmung, der Erkenntnismöglichkeiten und der Spiegelungspotentiale Venedigs zu beschäftigen und diese im eigenen Werk plötzlich auch zu entdecken. Das hat in den ersten Monaten meiner Arbeit am Deutschen Studienzentrum schon zu interessanten und unerwarteten Einsichten geführt: die Komponisten Clara Maïda zum Beispiel arbeitet in ihrer neuen Komposition auch mit Fotografien reflektierender Wasseroberflächen von venezianischen Kanälen, die zu visuellen Mosaikbausteinen werden. Und für Künste, die sich in der Zeit ereignen – wie etwa Musik oder Videoprojektionen – gilt, dass es auch Spiegelungen auf der zeitlichen Achse gibt – wie mir etwa der ehemalige Stipendiat und Komponist Martin Daske anhand seiner Arbeiten erklärte. Künstler verblüffen den Betrachter, das ist ohne Zweifel richtig. Aber die hier am Haus geförderten Wissenschaftler*innen tun das nicht weniger: hier lerne ich nicht nur von Arbeiten, die sich mit dem venezianischen Gewerbe der Spiegel- und Glasmacher beschäftigen. Hinter manchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbergen sich auch Kunsttalente, die die so verblüffenden wie ungeahnt zahlreichen Spiegelbilder der Serenissima mit scharfem Auge erkennen und sie in die Diskussion holen. Genau dafür scheint mir kein Begriff passender als “Widerspiegelungen“, welcher derart multiplizierte Spiegelungen, reale wie metaphorische, sprachlich zumindest andeutet.

Aggiungi la tua firma e il codice fiscale 94097630274 nel riquadro SOSTEGNO DEGLI ENTI DEL TERZO SETTORE della tua dichiarazione dei redditi.
Grazie!